Gudrun Kauck: Phantom der Oper,
Gaston Leroux, Susan Kay, A.L.Webber, Charaktere: Erik,
indische Lasso, Spiegelkabinett
Die Charaktere aus „Das Phantom der Oper“:
Erik
(das Phantom)
Immer wieder werde ich gefragt:
Ich will einmal versuchen, wenigstens einen Teil dieser immer wieder
auftauchenden Fragen zu beantworten. Ich muss aber darauf hinweisen, dass
dies keine wissenschaftliche Untersuchung ist, sondern meine ganz
persönliche, sehr subjektive Meinung! Da es abweichende Darstellungen der
Figur gibt, habe ich die verschiedenen Versionen einmal zusammen gestellt:
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im Roman
von Gaston Leroux Eine
Beschreibung der Figur aus dem Roman müsste in etwa lauten: Ein schrecklich
entstelltes Wesen, das in den unterirdischen Gewölben der Pariser Oper wohnt.
Von Geburt an entstellt, ist es zu einem Leben in der Dunkelheit und im
Verborgenen gezwungen. Im Opernhaus erlebt es einen kleinen Teil der Welt von
draußen mit. Durch geheime Türen und Durchgänge überwacht es die Abläufe im Opernhaus
und verschafft sich durch sein Wissen auch Geld: er erpresst die Direktoren
als „O.G.“ (Operngeist) und sichert sich so seinen Unterhalt. Er verfügt über
besondere Begabungen im Bereich Architektur, Magie und Musik. Sein unterirdisches
Versteck hat er mit Falltüren und einem geheimnisvollen Spiegelkabinett (das
absolut tödlich zu sein scheint) gesichert. |
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Bei sich trägt
er immer das „Indische Lasso“, eine Tiersehne mit zwei Hölzchen an den Enden,
die fast unsichtbar ist und den Opfern,
von hinten um die Kehle geschlungen, keine Abwehrmöglichkeit bietet.
Deshalb auch der Hinweis: „Die Hand muss in Augenhöhe sein…“, denn nur so
besteht noch eine kleine Chance, dem Lasso zu entkommen, indem der Arm
praktisch die Kehle schützt. Er handelt absolut skrupellos, obwohl nicht alle
Vorgänge wirklich geklärt werden können. Um nicht
gesehen zu werden, kleidet er sich in schwarz – mit Hut und Umhang. Eine
Maske verdeckt sein entstelltes Gesicht, das als eine Art Totenschädel beschrieben
wird. Das Alter dürfte im Roman zwischen 40 und 50 einzuordnen sein. |
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2. Erik – im Roman von Susan Kay Von Geburt an
entstellt, wächst der kleine Erik bei seiner Mutter auf, die ihr Kind zu
schützen versucht, indem sie ihm passende Masken für sein Gesicht näht. Sie
hasst ihn aber zugleich und stößt ihn zurück, weil er ihr ein normales Leben
unmöglich macht. Erik muss aber auch schon früh erfahren, dass ihn mit seinem
entstellten Gesicht niemand lieben kann. Er wirkt auf alle Menschen
abstoßend. Er liebt seine Mutter über alles und versucht mit allen Mitteln
ihre Liebe zu erringen – sie weist ihn immer wieder zurück und gibt ihn
später sogar weg. Er geht mit
Zigeunern weg, weil er denkt, dass er in einer so großen Gruppe untertauchen
kann – aber er wird wieder enttäuscht und als Monster ausgestellt. Die Rolle
übernimmt er dann auch selbst, weil er
damit seine äußerst sensible Seele schützen kann. In seinem Leben
lernt er nur wenige Menschen kennen, die hinter seine Maske schauen dürfen –
obwohl er diese niemals abnimmt. Er besitzt eine sehr schöne Stimme, musische
Begabung und eine ganz besondere Ausstrahlung, die sein entstelltes Äußeres
sehr schnell vergessen lässt. Außerdem
ist er sehr wissbegierig und lernt sehr schnell. Besonders scheint es
ihm die Architektur angetan zu haben und er entwickelt sich zu einem wahren
Meister. Auf seinen
Reisen – besonders nach Persien – bildet er sich weiter. Er liebt Menschen –
besonders die Kinder - und
hilft, wo er kann – aber der verachtet jene Menschen, die ihm Leid antun –
die er hasst mit brutaler Härte und scheut auch nicht vor Mord zurück. Wieder zurück
in Paris hilft er Meister Garnier beim Bau des Pariser Opernhauses – und aus
diesem Grund kennt er sich auch so gut in den unterirdischen Gewölben aus.
Eigentlich will er sich in das unterirdisches Versteck zurückziehen und in
Ruhe leben – ungesehen von der Umwelt. Aber hier lernt
er dann auch die Liebe seines Lebens kennen: Christine Daaé, das Waisenkind,
das in der Garde du Ballett der Oper ausgebildet wurde. Ihm ist bewusst, dass
sie ihn nie würde lieben können – aber er weiß um den Zauber seiner Stimme.
Schnell erkennt er ihr Talent und gibt ihr heimlich Unterricht, indem er sich
als Engel der Muse ausgibt, aber immer unsichtbar bleibt. Der Vater von
Christine war früh verstorben und hatte ihr auf dem Totenbett versprochen,
dass der Engel der Muse sie beschützen würde. Christine glaubt im Phantom ihren
Engel der Muse gefunden zu haben und vertraut ihm, obwohl sie ihn nie zu
Gesicht bekommen hat. Die Beziehung zwischen Christine und Erik hat den Hauch
von Überirdischem. Er liebt sie und überwacht eifersüchtig jeden ihrer
Schritte. Alles ändert
sich, als der neue Sponsor der Oper bekannt wird: Raoul de Chagny – ein
Jugendfreund von Christine. Der verliebt sich in die schöne junge Dame mit
der wundervollen Stimme und zieht sich damit den Unmut und den Hass des
Phantoms auf sich. Erik kann mit seinen Gefühlen plötzlich gar nicht mehr
umgehen und wird unberechenbar. Er tötet Bühnenarbeiter, entführt Christine,
und er richtet seinen ungezügelten Hass auch auf die Konkurrenz von
Christine, die Primadonna Carlotta. In seiner Wut lässt er sogar den
Kronleuchter herunterstürzen und richtet damit großen Schaden an. Nur Christine
scheint ihn zu verstehen. Sie hat auch die andere Seite von Erik kennen
gelernt und weiß, dass hinter dem Ungeheuer auch ein sensibler, äußerst
empfindsamer Mensch steckt. Trotzdem hat sie immer ein bisschen Angst vor
ihm. Aber sie hat auch Mitleid mit ihm und eine tiefe Liebe, die sie selbst
erst später erkennt. Weiter als in
jeder anderen Geschichte, geht die Beziehung von Christine und Erik, obwohl
wir auch bei Susan Kay nie erfahren, was wirklich hinter der verschlossenen
Tür passiert ist. Christine liebt Erik und er liebt Christine. Er erkennt
aber auch, dass ein Leben mit ihm unter der Oper nicht möglich sein wird. Er
gibt sie schließlich schweren Herzens frei und sie heiratet Raoul. In ihrem
Herzen weiß aber Christine ihr ganzes Leben lang, dass sie nur Erik geliebt
hat. Woran starb
Erik denn eigentlich? An gebrochenem Herzen? An seinen Verwundungen? An
seinen Entstellungen? – oder lebte er gar weiter und hat auch weiterhin als
„Engel der Muse“ über seine Christine gewacht? |
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3. Das Phantom der Oper – im Musical von
A.L.Webber Webber lehnt seinen
Phantom-Charakter stark an die Original-Vorlage an. Durch die Musik sind ihm
aber andere Möglichkeiten gegeben, diesen Charakter darzustellen – oder
besser: auch er lässt wieder vieles offen, das dann im Auge des Betrachters
liegen darf. Leider ist das in dem Film von 2004 schon wieder anders. Da
werden alle Geheimnisse gelüftet und der Story ein großer Teil von der Mystik
genommen. Christine kennt
das Phantom der Oper als einen Lehrer, der sich als ihr „Engel der Muse“ um
sie kümmert – mehr ist bis dahin nicht zwischen den beiden. Er versucht ihr
die Hauptrolle in der neuen Oper zu verschaffen, indem er ungeklärte
„Unfälle“ passieren lässt, die die Primadonna Carlotta verschrecken und
vertreiben sollen. Das ist ihm auch gelungen und Christine erhält die
Hauptrolle in einer Neuinszenierung. Da taucht Raoul
als Mäzen der Pariser Oper auf, sie erkennt ihn als ihren Freund aus
Kindertagen und er verliebt sich prompt in das schöne Mädchen mit den
wundervollen Stimme. Das ruft natürlich die Eifersucht des Phantoms auf den
Plan. Er hat sie schließlich ausgebildet und ihr die Stimme gegeben, in die
sich Raoul nun verliebt hat. |
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Nach einer
gelungenen Vorstellung will Raoul Christine ausführen, aber das vereitelt das
Phantom, indem er sie in sein unterirdisches Reich entführt und sich zum
ersten Mal in Person zeigt. Christine ist vom „Engel der Muse“ gleichzeitig
fasziniert und beängstigt. Als er ihr sein Lied der „Musik der Nacht“ singt,
zeigt er sein anderes Wesen – sehr verletzlich und auf der Suche nach Liebe.
Nur weiß er denn überhaupt, was Liebe ist? Er spricht immer nur davon, dass
er sie für seine Musik braucht – auch wenn seine Bewegungen und die
Interpretation des Liedes etwas anderes vermuten lassen. Als Christine
am nächsten Tag erwacht und ohne Angst hinter seine Maske sehen will, macht
er wieder dicht. Er ist wieder das verletzte Wesen, das sich durch Drohungen
und Gewalt zu schützen versucht. Er bringt Christine zurück, ohne ihr etwas
angetan zu haben. Raoul spielt sich
zum Retter von Christine auf, was das Phantom noch wütender macht. In
geheimnisvollen Briefen droht er nicht nur den Direktoren der Oper und Raoul,
sondern auch Carlotta und Piangi. Alles hier im Opernhaus hat nach seinem
Willem zu geschehen. Man widersetzt
sich seinen Anordnung und lässt weiterhin Carlotta als Primadonna auftreten.
Die Wut des Phantoms wird unberechenbar. Er nimmt Carlotta daraufhin die
Stimme, sodass die nur noch quakend singen kann. Christine hat Angst und
flüchtet vor dem Phantom auf das Dach der Oper – Raoul ist bei ihr und will
sie beschützen. Als Christine Raoul ihre Liebe gesteht, steht das Phantom
hinter der Apollo-Figur und hört alles mit. Schmerz, Wut, Verzweiflung - er weiß nicht mehr weiter und droht
allen und unterstreicht seine Drohung, indem er den Kronleuchter der Oper
herunterfallen lässt. |
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Lange Zeit hat
man das Phantom dann nicht mehr im Opernhaus gesehen. Man ist glücklich und
feiert einen ausgelassenen Maskenball, als plötzlich das Phantom, als „Roter
Tod“ verkleidet, erscheint. Noch immer zieht er Christine magisch in seinen
Bann und er erkennt auch sofort, dass sie sich heimlich mit Raoul verlobt
hat. Wütend fordert er die
Direktoren auf, seine selbstgeschriebene Oper aufzuführen – mit Christine in
der Hauptrolle. Christine ist
verzweifelt und geht zum Grab ihres Vaters. Sie hat Angst und ist trotzdem
wieder gefangen von dem „Engel der Muse“, der ihr auch hierher gefolgt ist.
Gerade führt er sie mit unsichtbarer Hand, als Raoul auftaucht und sich
wütend zum Kampf stellt. Das Phantom erklärt daraufhin allen den Krieg. Man
will ihn überlisten und eine Falle stellen – aber Christine soll als Köder
dienen. Das Phantom räumt einen letzten
Kontrahenten aus dem Weg und steht nun selbst Christine auf der Bühne gegenüber
– noch unkenntlich durch einen Umhang. Seine wundervolle Stimme verführt
Christine erneut und sie ist schon fast wieder willenlos, als sie sich an
ihre Aufgabe erinnert und ihm die Maske vom entstellten Gesicht reißt.
Verzweifelt steht das Phantom da, Mitleid erregend seine Klage und sein
Geständnis, dass er Christine liebt. In dem Moment wollen Raoul und die
Direktoren zuschlagen, aber das Phantom kann im allerletzten Moment entkommen
– er reißt Christine mit sich. Dann stehen sie
wieder in seinem Verlies – er völlig verzweifelt und von seinen Gefühlen
überwältigt, sie nicht wissend, wohin sie gehört und doch magisch angezogen
von diesem entstellten Mann und Raoul – naiv, aber entschlossen Christine zu
retten, auch wenn es sein eigenes Leben kosten würde. In seiner
Verzweiflung stellt das Phantom Christine vor die Wahl, entweder für immer
bei ihm zu bleiben und Raoul damit das Leben zu retten oder hier zu entkommen
und somit Raoul zu töten. Das Phantom ist
geschwächt von den Kämpfen der letzten Monate und als Christine ihn dann aus
Mitleid küsst, gerät seine Gefühlswelt auch noch völlig durcheinander. Er
erkennt aber doch, dass er ihr Leben nicht zerstören will und entlässt sie
letztlich zusammen mit Raoul in die Freiheit. Das Phantom verzichtet
auf diese einzigartige Liebe und zerbricht daran. Ohne sie will auch er nicht
mehr leben..... |
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Wenn man sich viel mit dem Thema befasst, bildet man sich
natürlich eine eigene Meinung. Die Figur des Phantoms der Oper, Erik, ist
eine der interessantesten Romanfiguren, die mir bisher begegnet ist.
Eigentlich erzählt Leroux selbst ja gar nicht so viel über seinen
Protagonisten, aber gerade das scheint das Interesse geweckt zu haben. Sehr
beeinflusst hat mich der Roman von Susan Kay, die in ihrer „Biografie“ die
Lücken gefüllt hat, die der Roman von Leroux und der Film mit Lon Chaney noch
offen gelassen hatten. Ich sehe ihn so: Erik (einen
Nachnamen gibt es nicht) ist ein großer, stattlicher Mann, zwischen 40 und 50
Jahren alt, immer elegant gekleidet, sehr belesen, liebt Musik über alles,
komponiert an einer Orgel in seinem unterirdischen Versteck. Seine entstellte
Gesichtshälfte deckt er durch eine Maske ab, die sehr aufwändig gearbeitet
ist und dadurch fast unsichtbar. Wenn er sein Versteck verlässt, kleidet er
sich in einen schwarzen Umhang und einen großen Hut, den er weit übers
Gesicht zieht. Sein Begleiter,
der Daroga, der ihn seit seinem Aufenthalt in Persien mehr wie ein Freund
begleitet, erledigt für ihn Dinge, die er selbst nicht erledigen kann –
Botengänge, Einkäufe, Besorgungen u.a. Sein unterirdisches Reich hat er auch
mit Hilfe des Daroga ausgestattet – sehr prunkvoll und eigentlich schon fast
ein Mausoleum für seine Mutter, die er über alles geliebt hat – obwohl auch
sie ihn nie berührt hat und ihn wegen seiner Entstellung sogar verstoßen hat. Er ist
hochintelligent und hat sich sein Wissen fast alleine beigebracht. Er hat
alles gelesen, was er finden konnte und verschiedenen Meistern heimlich auf
die Finger geschaut. Auch verfügt er über magische Fähigkeiten, die sich
weder wissenschaftlich noch mit gesundem Menschenverstand erklären lassen. Ob
es nur an seiner besonderen Fingerfertigkeit liegt oder ob er wirklich
zaubern kann, hält er und verborgen. Als er in seine
Wohnung unter der Oper einzieht, hat er eigentlich schon mit der Welt
abgeschlossen. Er will nur noch seine Ruhe haben, komponieren, alleine sein,
die Einsamkeit genießen. Ob er seine Wohnung so geplant hat, dass er den
Aufführungen auf der Bühne folgen kann oder ob das nur an der besonderen
Bauweise des Gebäudes liegt? Er liebt diese Abende, an denen die schönen
Opern auf der Bühne gespielt werden, aber er mag die Stimme der Primadonna
Carlotta nicht. Einmal, lange
nach der Vorstellung, hört er eine Stimme, die sein Herz merkwürdig berührt.
Er kann nicht länger in seinem Versteck bleiben, will die Dame mit der
schönen Stimme sehen – aber er selbst darf ja nicht gesehen werden. Durch
versteckte Gänge kann er jeden Punkt im Opernhaus erreichen. Er beobachtet
sie heimlich. Als er mehr über Christine Daaé, die
junge Sängerin, die aber eigentlich nur ein Ballettmädchen ist, erfährt,
nutzt er die jugendliche Unschuld des Mädchens aus. Christine ist Waise und
ihr Vater, ein berühmter schwedischer Geiger, hatte ihr auf seinem Totenbett
versichert, dass der „Engel der Muse“ über sie wachen würde. Als sie zum
ersten Mal die sehr angenehme Stimme des Phantoms hört, glaubt sie, der
„Engel der Muse“ sei nun wirklich zu ihr gekommen. Um in ihrer Nähe sein zu
können, lässt Erik sie in diesem Glauben und gibt ihr heimlich
Gesangsunterricht. Christine vertraut ihrem Lehrer und lernt viel bei ihm. Nun möchte Erik
natürlich auch, dass sein Schützling die Rolle der Primadonna übernimmt. Mit
immer neuen, noch harmlosen Anschlägen macht er Carlotta das Leben schwer.
Als sie aber dann eines Tages von einem schweren Prospekt fast erschlagen
wird, verlässt sie wütend die Oper. Christine darf die Rolle übernehmen und
wird begeistert umjubelt. Der Zufall will
es, dass gerade in dieser Vorstellung der junge Graf Raoul de Chagny anwesend
ist. Er erkennt seine Freundin aus Kindertagen wieder, trifft sie in ihrer
Garderobe und lädt sie zum Essen ein. Erik sieht in Raoul einen Eindringling,
der die Früchte erntet, die er gepflanzt hat. Um sie von Raoul fernzuhalten,
entführt er Christine in seine geheime Welt und sie sieht ihn zum ersten Mal.
Vor allem aber hört sie zum ersten Mal, dass er nur für sie seine „Musik der
Nacht“ singt. Sie verfällt dem Zauber der wunderschönen Stimme, aber sie hat
auch Angst vor dem geheimnisvollen Mann mit der Maske. Erik ist hin-
und hergerissen von seinen Gefühlen. Christine ist seine Muse, nur für sie
schreibt er seine Musik – aber er fühlt mehr für sie und kann es doch nicht
zuordnen. Dieses Gefühl kennt er nicht. Als Christine
ihm die Maske entreißt und sie sein entstelltes Gesicht sieht, kommt in Erik
die Angst wieder hoch, dass er nun wieder zurückgestoßen wird, dass auch
Christine so reagieren wird wie seine Mutter. Er bringt sie zu ihrer
Garderobe zurück – aber er beobachtet weiterhin eifersüchtig über jeden ihrer
Schritte. Christine fühlt sich zu Raoul hingezogen, aber irgendwie auch zu diesem
Phantom, das so geheimnisvoll und trotzdem so anziehend wirkte. Erik wird
wütend, als die Direktoren seine Forderung ignorieren, Christine die
Hauptrolle in der neuen Oper zu geben. Als Carlotta singt, macht er seine
Drohung war und nimmt ihr die Stimme. Nur noch ein heiseres Quaken ist zu
hören. Christine machen diese Vorkommnisse Angst. Sie will entfliehen und
flüchtet mit Raoul zusammen aufs Dach des Opernhauses – Erik folgt den
Beiden. Auf dem Dach wird er dann Zeuge, wie Christine und Raoul sich ihre
Liebe gestehen. Es zerreist ihm fast das Herz und er leidet unmenschliche
Qualen in seinem Versteck hinter der Apollo-Figur. Als die Beiden gegangen
sind, schwört er, dass er nun alles zerstören würde – danach ist er für lange
Zeit verschwunden. Er hat sich
zurückgezogen und seine ganzen Gefühle in eine Oper gesteckt, die er extra
komponiert hat. Als ein großer Maskenball stattfindet, kann er verkleidet als
„Roter Tod“ dort aufkreuzen und seine neuen Forderungen verkünden. Christine
soll die Hauptrolle in „seiner“ Oper erhalten. Den Verlobungsring, den sie
heimlich um den Hals trägt entreißt er ihr wütend. Christine ist
verzweifelt und sucht Rat und Hilfe am Grab ihres Vaters. Erik folgt ihr und
versucht, sie wieder in seinen Bann zu ziehen. Als das fast gelungen ist,
taucht Raoul auf und stellt sich Erik in den Weg. Die Männer kämpfen, aber
Raoul kann Christine in Sicherheit bringen. Erik schwört Rache – es gibt nun
kein Zurück mehr. Man hat
Christine überreden können, als Lockvogel aufzutreten und Erik in eine Falle
zu locken. Sie soll die Hauptrolle in „seiner“ Oper spielen und da man sicher
ist, dass Erik auftauchen wird, will man ihn dann festnehmen. Die Oper beginnt
und Eriks Plan scheint zu gelingen. Bezaubert durch die Musik und seine wunderschöne
Stimme hat er Christine wieder in seinen Bann gezogen. Er lockt sie mit allen
Mitteln der Verführung und sie folgt beinahe willenlos. Die ekstatische Musik
„Von nun an gibt es kein Zurück“ begleitet die Szene. Raoul beobachtet alles
von der Loge aus und ist der Verzweiflung nahe. Plötzlich aber wird Christine
doch wieder bewusst, wen sie da vor sich hat. Sie reißt Erik seine Maske
herunter und entblößt ihn. Bemitleidenswert steht er vor ihr, gesteht ihr
seine Liebe und schenkt ihr seinen Ring – als die Direktoren und Raoul mit
Hilfe der Polizei eingreifen und Erik verhaften wollen. Der flieht
geistesgegenwärtig – und zieht Christine mit. Den Verfolgern
bleibt keine andere Wahl, sie müssen dem Phantom folgen, um Christine zu
retten. Alle sind sich der Gefahr bewusst, denn in den Gewölben unter der
Oper gibt es viele von Erik gebaute Falltüren, Spiegelkabinette 1 und Folterkammern. Die größte Gefahr geht aber von dem
„Indischen Lasso“ 2 aus, das
Erik immer bei sich trägt und das lautlos morden kann. Erik bringt
Christine in sein unterirdisches Zuhause. Sie ist inzwischen gar nicht mehr
so ängstlich, sondern sie hat erkannt, dass ihr „Engel“ auch verwundbar ist –
auch nur ein Mensch? Sie ist wütend, dass er so mit ihr umgeht. Raoul ist
ihnen gefolgt und wird von Erik gefangen genommen. Er ist verzweifelt, weil
er sieht, dass Christine Raoul liebt. Einen letzten verzweifelten Versuch,
sie zu behalten, versucht er noch. Sie soll sich entscheiden, ob sie Raouls
Leben retten will, indem sie hier bei ihm bleibt – oder ob sie frei sein
will, Raoul aber sterben wird. Nun erkennt Christine, welche Macht sie über
Erik hat und wie verzweifelt er sich nach ein bisschen Liebe sehnt. Sie küsst ihn
und zum ersten Mal überhaupt spürt Erik was körperliche Liebe bedeuten kann.
Christine ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Liebe. Mit Erik aber
geht etwas Sonderbares vor: er erkennt, dass er Christine ein Leben in der
Dunkelheit mit einer entstellten Kreatur nicht zumuten kann. Aus Liebe zu ihr
lässt er sie und Raoul frei. Der Schmerz über
diese Erkenntnis, dass er nun endlich geliebt wird, aber diese Liebe nicht
halten kann, trifft ihn sehr tief. Er ist verzweifelt und am Ende seiner
Kraft. Als Christine dann auch noch einmal auftaucht und erneut seine
Hoffnung keimt. Der Schmerz zerreist ihn fast, als sie ihm nur den Ring
zurückgeben will, der ihr nun ja nicht mehr zusteht. Erik zieht sich
einsam zurück – ob er noch leben will? – ob er lieber stirbt? Das haben wir
leider nie erfahren. Können wir von Erik etwas lernen? Ja, sehr viel sogar. Mit der Romanfigur Erik lernen wir
eine Person kennen, die ihr ganzes Leben eigentlich nichts anderes gesucht hat
als Liebe. Kaum jemand hat sich die Mühe gemacht und hinter die scheußliche
Maske geschaut, wo eine schöne Seele und ein hochintelligenter Mensch
verborgen ist. Die Tragik ist, dass er die Liebe seines Lebens dann doch
wieder gehen lässt, weil er erkennt, dass ein Leben mit ihm eine zu große
Bürde für einen geliebten Menschen ist. Dank seiner im Grunde doch guten
Seele und dank der Liebe von Christine hat Erik menschliche Größe gezeigt. Er
hat verzichtet, um einen anderen Menschen vor einem schlimmen Schicksal zu
bewahren. Vielleicht liegt mir diese Romanfigur so am Herzen, weil
man so viel aus ihr lernen kann. Erik zeigt an so vielen Stellen Reaktionen,
die wir sicher auch haben würden – hoffentlich aber nicht bis zur letzten
Konsequenz (deshalb ist er ja im Roman). Wir sollten aber immer daran denken,
dass nicht das Äußere eines Menschen zählt, sondern das, was hinter der Maske
verborgen ist. Gerade hinter einer hässlichen Maske können die schönsten
Schätze verborgen sein. 1 Das „Spiegelkabinett“ ist ein sechseckiger Raum, der ringsum mit
Spiegeln ausgestattet ist. Durch die Anordnung der Spiegel entsteht die
Illusion, dass es eine Tür gibt. Geht man auf diese Tür zu, taucht eine
andere auf – das geht unendlich weiter, bis der Gefangene verrückt wird oder
verhungert oder sich an dem Ast erhängt, der extra dafür angebracht ist. 2 Das „Indische Lasso“ ist eine Tiersehne, die an beiden Enden mit
Holzgriffen versehen ist. Legt man dieses Lasso einem Opfer um den Hals,
besteht fast keine Möglichkeit mehr zu entkommen. Ein klein wenig Hoffnung
besteht nur dann, wenn es dem Opfer gelingt, seine Hand zwischen Lasso und
Kehle zu halten und somit den Druck etwas zu mindern. |
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Raoul Vicomte de Chagny <<< |
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